Anfang des 20. Jahrhunderts war bei weitem noch nicht abzusehen, ob der Dampfwagen, das Elektroauto oder das Fahrzeug mit Explosionsmotor das Transportmittel der Zukunft sein würde
Alle drei Technologien standen miteinander im Wettbewerb und jede hatte damals gewisse Vor,- und Nachteile. Bevor der Explosionsmotor seinen hohen Zuverlässigkeitsgrad erreichte und elektrisch gestartet werden konnte, hatte der Dampfwagen dank seiner Schnelligkeit und seinen enormen Fähigkeiten am Berg die Nase vorn. Auch um die Sicherheit brauchte man sich dank ausgefeilter Ventil,- und Druckablassvorrichtungen nicht zu sorgen. So gibt es keinen Nachweis, dass etwa ein Stanley-Kessel damals jemals explodiert wäre.
Der auch bereits recht zuverlässige Elektrowagen spielte seine Stärken hingegen wegen seiner geringen Reichweite und seines hohen Gewichts eher auf städtischem Terrain aus.
Die 1902 von den beiden Stanley-Zwillingsbrüdern in Newton im amerikanischen Bundesstaat Massachusetts gegründete Stanley Motor Carriage Company avancierte zum bekanntesten Dampfautomobil-Unternehmen der Welt
Der größte Dampfautomobil-Hersteller war Stanley zwar nicht, denn die amerikanische Firma White baute weit mehr Dampfautos als Stanley, allerdings blieben letztere länger (bis 1924) dabei und machten zudem durch Wettbewerbserfolge nachhaltiger auf sich aufmerksam.
Der originale Vanderbilt Cup Racer von Stanley wurde 1905 fertiggestellt und für das Vanderbilt Cup Rennen 1906 genannt
Dieses prestigeträchtige, internationale Rennen wurde 1904 von William Kissan Vanderbilt II aus der reichen New Yorker Eisenbahnunternehmer-Familie ins Leben gerufen und anfangs auf einem 30-Meilenstraßenkurs mit kurvenreichen Streckenabschnitten von Long Island, New York abgehalten. Später verlagerte man die Veranstaltung auf eine eigens von Vanderbilt gebaute Rennstrecke, den Long Island Motor Parkway. Stanley war aber nicht nur hier rennsportlich aktiv. 1906 war auch das Jahr, in dem der Stanley Rocket Steamer, ein strömungsgünstiges Hochgeschwindigkeitsfahrzeug, mit dem furchtlosen Rennnfahrer Fred Marriott hinter dem Volant am Strand von Daytona Beach in Florida den Schnelligkeits-Weltrekord mit einer Geschwindigkeit von 206 km/h aufstellte. Noch nie zuvor war ein Fahrzeug damals über 200 km/h schnell gefahren. Erst 1911 schaffte es ein Fahrzeug mit Explosionsmotor diesen Rekord zu brechen.
Begonnen hatten die Stanley-Zwillinge, die zuvor mit Erfolg fotografische Platten hergestellt und ihr Unternehmen an Kodak verkauft hatten, mit dem Bau von Dampfwagen bereits vor der Gründung ihres Automobil-Unternehmens
Die ersten Versionen entstanden um 1897 und schon wenig später produzierten sie an die 200 dieser frühen Steamer. Einen Bauplan der frühen Version verkauften die beiden an die Firma Locomobile, die diese leichten Runabouts anfangs recht erfolgreich produzierte, allerdings dann bald auf Autos mit Explosionsmotoren umstieg.
In den ersten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts bot Stanley eine breite Modell-Palette an
Von den frühen Runabouts mit hinter der Sitzbank platziertem Kessel ging man schnell zu der Anordnung mit vorn platziertem Kessel samt Brenner und einem Direktantrieb der Hinterachse durch einen mit dem Differential verbundenen, doppelt wirkenden Zweizylindertriebwerk über. Diese Motor-Differential-Einheit war in ein dichtes Gehäuse verpackt und lief im Ölbad. Ihren Antrieb erhielten die Zylinder über den durch eine Leitung nach hinten zu den Zylindern geführten Dampf, dessen Abgabe vom Fahrer über ein Ventil kontrolliert wurde. Wurden der Brenner und der Pilotbrenner, die nach dem Bunsen-Brenner-Prinzip arbeiteten, anfangs beide mit Benzin betrieben, so ging man später oft dazu über für den ständig (meist auf Sparflamme) laufenden Pilotbrenner Benzin einzusetzen und für den nur nach Bedarf zur Dampferzeugung in Gang gesetzten Brenner das billigere, energiedichtere und weniger explosive Kerosin. Typisch für Stanley waren die großen, leichten und mit Klavierdraht umwickelten Kessel, die die Dampf-Energie vorrätig hielten. Um noch länger Energie abrufen zu können, bekamen die späteren Stanleys Kondensatoren in Kühlerform. Sie wandelten den überschüssigen Dampf wieder in Wasser um
Fotos & Text: Marina Block
Technische Daten
Triebwerk: Zweizylinder doppelt wirkend, an Hinterachse
Hubraum: 997 ccm
B x H: 76,2 mm x 102 mm
Leistung: 30 HP
Kessel: 23 in Durchmesser, vorn platziert
Höchstgeschwindigkeit: ca. 120 km/h
Chassis: Kastenrahmen aus Stahl
Radaufhängung vorn: Starrachse, Halbelliptikfedern
Radaufhängung hinten: Starrachse, Vollelliptikfedern
Lenkung: Schnecke, Warner
Karosserieform: zweisitziger, offener Rennwagen, Aluminiumkarosserie
Bremsen: 14 in Trommelbremsen an Hinterrädern
Bereifung: 875 x 105
Radstand: 130 in
Tank für Brenner: hinten, 20 Gallonen Kerosin
Benzintank für Pilotbrenner: unter Vordersitz, 4 Gallonen
Bauzeit: 1905