Ob der Dampfwagen, das Elektroauto oder das Fahrzeug mit Benzinmotor das Transportmittel der Zukunft sein würde, war am Anfang des 20. Jahrhunderts bei weitem noch nicht abzusehen
Alle drei Technologien standen miteinander im Wettbewerb und jede hatte ihre Vor,- und Nachteile. Bevor der Explosionsmotor seinen hohen Zuverlässigkeitsgrad erreichte und elektrisch gestartet werden konnte, hatte der Dampfwagen dank seiner Schnelligkeit und seinen enormen Fähigkeiten am Berg die Nase vorn. Wie schnell Dampfwagen sein konnten, bewies 1906 der Rennfahrer Fred Marriott hinter dem Volant des Stanley Rocket Steamer am Strand von Daytona Beach in Florida, als er mit einer Geschwindigkeit von 205,5 km/h den Schnelligkeits-Weltrekord aufstellte. Noch nie zuvor war ein Fahrzeug damals über 200 km/h schnell gefahren. Erst 1911 schaffte es ein Fahrzeug mit Explosionsmotor diesen Rekord zu brechen. Auch um die Sicherheit brauchte man sich dank mittlerweile intelligent konstruierter Kessel nicht zu sorgen. So gibt es keinen Nachweis, dass etwa ein Stanley-Kessel damals jemals explodiert wäre.
Der auch bereits recht zuverlässige Elektrowagen spielte seine Stärken hingegen wegen seiner geringen Reichweite und seines hohen Gewichts eher auf städtischem Terrain aus.
Die 1902 von den beiden Stanley-Zwillingsbrüdern in Newton im amerikanischen Bundesstaat Massachusetts gegründete Stanley Motor Carriage Company avancierte zum bekanntesten Dampfautomobil-Unternehmen der Welt
Der größte Dampfautomobil-Hersteller war Stanley zwar nicht, denn die amerikanische Firma White baute weit mehr Dampfautos als Stanley, allerdings blieben letztere länger (bis 1924) dabei und machten zudem durch Wettbewerbserfolge nachhaltiger auf sich aufmerksam.
Begonnen hatten die Stanley-Zwillinge, die zuvor mit Erfolg fotografische Platten hergestellt und ihr Unternehmen an Kodak verkauft hatten, mit dem Bau von Dampfwagen bereits vor der Gründung ihres Automobil-Unternehmens
Die ersten Versionen entstanden um 1897 und schon wenig später produzierten sie an die 200 dieser frühen Steamer. Einen Bauplan der frühen Version verkauften die beiden an die Firma Locomobile, die diese leichten Runabouts anfangs recht erfolgreich produzierte, allerdings dann bald auf Autos mit Explosionsmotoren umstieg.
Stanley bot in den ersten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts eine breite Modell-Palette mit verschiedenen Karosserievarianten an
Von den frühen Runabouts mit hinter der Sitzbank platziertem Kessel ging man schnell zu der Anordnung mit vorn platziertem Kessel samt Brenner und einem Direktantrieb der Hinterachse durch ein mit dem Differential verbundenes, doppelt wirkendes Zweizylindertriebwerk über. Diese Motor-Differential-Einheit war in ein dichtes Gehäuse verpackt und lief im Ölbad. Ihren Antrieb erhielten die Zylinder über den durch eine Leitung nach hinten zu den Zylindern geführten Dampf. Typisch für Stanley waren die großen, leichten und mit Klavierdraht umwickelten Kessel, die die Dampf-Energie vorrätig hielten. Um noch länger Energie abrufen zu können, bekamen die späteren Stanleys Kondensatoren in Kühlerform. Sie wandelten den überschüssigen Dampf wieder in Wasser um.
Gebaut wurden insgesamt etwa von 1901 bis 1924 10000 Stanleys
Im Geburtsjahr des abgebildeten Modells EX von 1906 entstanden etwa 640 Exemplare in verschiedenen Modellvarianten. Gebaut wurde das Modell Ex von 1906 bis 1909 und kostete damals 600 $.
Fotos & Text: Marina Block
Technische Daten
Triebwerk: Zweizylinder doppelt wirkend, an Hinterachse
Hubraum: 1027 ccm
Leistung: 10 HP
Kessel: ca. 46 cm Durchmesser, vorn platziert
Höchstgeschwindigkeit: ca. 120 km/h
Chassis: Kastenrahmen aus Stahl
Radstand: 2286 mm
Radaufhängung vorn: Starrachse, Halbelliptikfedern
Radaufhängung hinten: Starrachse, Vollelliptikfedern
Lenkung: Schnecke, Warner
Karosserieform: offener Zweisitzer mit Schwiegermuttersitz
Bremsen: Trommelbremsen an Hinterrädern
Gewicht: ca. 600 kg
Wassertank: 98 l
Preis: 600 $
Bauzeit: 1906-1909