Entstanden war dieses geniale englische Motorrad sozusagen am Krankenbett. Der Chefkonstrukteur der englischen Motorradmarke Velocette aus Hall Green bei Birmingham nutzte nämlich einen Krankenhausaufenthalt für grundsätzliche Überlegungen zum Motorradbau
Charles Udall stellte sich die Frage, warum der Mensch eigentlich zum Auto strebte und was diesem am Motorrad nicht gefiel. Und das war eine Menge. So waren Motorräder laut, man bekam nasse und kalte Füße, konnte selbst Kleinigkeiten schlecht transportieren, musste auf ein komfortables Schaltschema, wie beim Auto, verzichten, hatte keinen Reservetank und verbog sich obendrein beim Putzen der Rohrrahmen die Finger. Für all diese Mankos fand Udall Lösungen und setzte sie bei der Konstruktion der LE um, nachdem er den Firmeneigner Eugene Goodman überzeugt hatte. Heraus kam ein nicht nur zuverlässiges und sehr haltbares, sondern auch extrem bedienungsfreundliches, sehr leises, leicht zu fahrendes und komfortables Fahrzeug mit Telegabel, Kardanantrieb zum Hinterrad und Hinterradschwinge. Allein die Formgebung des eckigen und voluminösen Kastenrahmens mit Beinschilden, Trittbrettern und angeschweißtem Hinterradkotflügel wirkte vielleicht etwas gewöhnungsbedürftig, war aber gut durchdacht. Denn diese „Karosserie“ machte das Motorrad viel pflegeleichter und schützte, wie später bei den Rollern, vor Spritzwasser und Straßendreck.
LE stand für „little engine“ und bezog sich auf die geringe Hubraumgröße des äußerst leisen Motors
Der seitengesteuerte Zweizylinder-Boxermotor mit 150 ccm Hubraum lief dank der Wasserkühlung (Thermosyphonkühlung) extrem leise, was als sehr angenehm empfunden wurde. Außerdem wärmte er zusammen mit den Beinschilden auch noch die Füße (ein luftgekühlter Motor hätte das nicht getan). Einen Boxermotor hatte man gewählt, weil er vibrationsarm war und so den Rahmen weniger belastete. Der Rahmen erinnerte übrigens etwas an den der deutschen Mars aus den 20er Jahren.
Die LE war sehr fahrerfreundlich, pflegeleicht und komfortabel
So wurde sie nicht über einen Kickstarter, sondern über einen langen Handhebel gestartet. Der an der Karosserie angebrachte Handschalthebel des Dreiganggetriebes war ergonomisch günstig angeordnet und besaß ein H-Schaltschema wie beim Auto. Mit nur wenigen Handgriffen ließ sich die Karosserie von der Triebwerks-Schwingeneinheit lösen, was Wartungsarbeiten einfacher machte. Auch konnte man die Federbeine auf unterschiedliche Belastungsgrade einstellen und der Hauptständer klappte automatisch beim Ziehen am Starthebel ein. Praktisch war auch das aufklappbare Handschuhfach im Kastenrahmen und die beiden mitgelieferten Packtaschen für den Transport. Auch der separate Reservetank hinten am Rahmen machte Sinn.
Im Grunde verband die LE die positiven Aspekte eines Rollers mit denen eines Motorrads. Viele Kenner, darunter auch Paul Simsa, bedauerten sehr, dass die in ihrer Konstruktion so herausragende Velocette auf dem Markt schlechter angenommen wurde als etwa so manch ein weit weniger gut durchdachter Roller mit seinen, das Fahrzeug kippelig machenden, kleinen Rädern
Mit einem Preis von 126 Pfund war sie allerdings kein Schnäppchen (die BSA Bantam kostete 50 Pfund weniger) und in dem Sinne wohl nicht unbedingt ein Motorrad für „jedermann“, wie sie in der Velocette-Werbung beworben wurde. Wohl aber war sie so konstruiert, dass Jedermann (auch nicht mit Motorrädern vertraute Menschen) sie bedienen und fahren konnte. Zwar wurden von ihr insgesamt nur 33000 Exemplare gebaut, doch hielt sie länger durch als viele andere. Schließlich wurde sie in drei Baureihen bis 1971, als das Unternehmen seine Tore schloss, angeboten. Sehr viele Fahrzeuge gingen in der 23jährigen Produktionszeit an die britische Polizei, bei der diese geräuscharme Velocette sehr beliebt war und lange reibungslos ihren Dienst verrichtete. Auch bei Hebammen war die LE dank ihrer Zuverlässigkeit, ihres guten Fahrverhaltens und ihrer Transportmöglichkeiten sehr gefragt.
Fotos & Text: Marina Block
Technische Daten
Motor: sv Zweizylinder-Boxermotor, wassergekühlt
Hubraum: 149 ccm
B x H: 44 x 49 mm
Verdichtung: 6:1
Leistung: 6 PS bei 5000 U/min
Höchstgeschwindigkeit: 80 km/h
Vergaser: Amal-Schiebervergaser
Zündung: Batterie-Spulenzündung
Kupplung: Mehrscheiben-Trockenkupplung
Getriebe: Dreiganggetriebe, handgeschaltet
Antriebsart: Kardanwelle zum Hinterrad
Rahmen: Blechkastenrahmen, unten offen
Vorderradaufhängung: Telegabel
Hinterradaufhängung: Zweiarm-Schwinge mit Federbeinen
Bremsen: Halbnaben-Trommelbremsen vorn und hinten, 125 mm
Räder: Drahtspeichenräder mit Stahlfelge
Reifen: 3.00-19
Gewicht: 110 kg
Tankinhalt: 7,4 l
Bauzeit: MK1 1948-1950; MK2+3: 1951-1971
Stückzahl: insgesamt ca. 33000 Ex.